Es gibt Geschichten, die so außergewöhnlich sind, dass sie wie Fiktion klingen – doch sie sind wahr. Die Geschichte von Charles Mully ist eine solche Erzählung. Sie beginnt in bitterer Armut, führt durch spektakulären wirtschaftlichen Erfolg und mündet in einem der bemerkenswertesten Akte der Selbstaufopferung und Nächstenliebe unserer Zeit. Es ist die Geschichte eines Mannes, der das System durchbrach, das ihn gefangen hielt, nur um freiwillig zurückzukehren und tausende andere zu befreien.
Von allen verlassen: Eine Kindheit in Verzweiflung
Charles Mullys Geschichte beginnt 1949 in einem kleinen Dorf in Kenia. Seine frühe Kindheit war von extremer Armut geprägt, doch sie wurde noch düsterer, als seine Eltern ihn im Alter von sechs Jahren verließen. Der kleine Junge erwachte eines Morgens und fand sein Zuhause verlassen vor – seine Eltern und Geschwister waren verschwunden. Ohne Familie, ohne Geld und ohne Hoffnung war er gezwungen, auf den gefährlichen Straßen Nairobis zu überleben.
Jahrelang bettelte Mully um Essen, schlief unter Büschen und erfuhr täglich Ablehnung und Gewalt. „Ich wurde als Abfall betrachtet“, erinnert er sich später. „Die Menschen sahen mich als wertlos an.“ Doch in seiner dunkelsten Stunde geschah etwas Bemerkenswertes: Er weigerte sich, sein Schicksal zu akzeptieren.
„Ich hatte zwei Möglichkeiten: mich selbst bemitleiden und ein kriminelles Leben führen oder aufstehen und kämpfen. Ich entschied mich für den Kampf.“ — Charles Mully
Der unwahrscheinliche Aufstieg: Vom Straßenjungen zum Millionär
Mit 16 Jahren traf Mully eine lebensverändernde Entscheidung. Nach zahllosen Ablehnungen ging er zu einem wohlhabenden Haushalt und bat nicht um Almosen, sondern um Arbeit. Er wurde eingestellt, um im Garten zu arbeiten. Diese kleine Chance war alles, was er brauchte. Charles arbeitete härter als jeder andere, sparte jeden Schilling und lernte aufmerksam.
Im Laufe der Jahre arbeitete er sich vom Gärtner zum Hausangestellten und schließlich zum Vertrauensmann der Familie hoch. Mit 17 bekehrte er sich zum christlichen Glauben, der fortan sein moralischer Kompass wurde. Er heiratete Esther, eine Frau mit ähnlich bescheidener Herkunft, und gemeinsam begannen sie, eine Familie zu gründen.
Doch Charles‘ Ambitionen reichten weiter. Mit gespartem Geld kaufte er ein Taxi und begann sein eigenes Unternehmen. Ein Taxi wurden mehrere, dann eine Flotte. Er erweiterte sein Geschäft um Landwirtschaft, Transport, Mineralöl und Versicherungen. Innerhalb von zwei Jahrzehnten wurde der ehemalige Straßenjunge zu einem der wohlhabendsten Unternehmer Kenias – mit luxuriösen Häusern, teuren Autos und einem Vermögen, das ihm und seiner Familie ein Leben in Wohlstand sicherte.
Die unerwartete Wende: Ein Ruf, der alles veränderte
1989, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, erlebte Charles Mully eine tiefe persönliche Krise. Auf dem Heimweg von einer Geschäftsreise wurde er von einer Gruppe Straßenkinder umringt, die um Geld bettelten. In ihren Gesichtern sah er plötzlich sein eigenes jugendliches Selbst. Diese Begegnung erschütterte ihn zutiefst und ließ ihn sein Leben in Frage stellen.
Nach Tagen intensiven Nachdenkens und Betens traf Mully eine Entscheidung, die seine Familie und alle, die ihn kannten, schockierte: Er würde sein gesamtes Geschäftsimperium aufgeben, um sich der Rettung von Straßenkindern zu widmen. Als er seiner Frau und seinen acht Kindern mitteilte, dass er alle seine Unternehmen verkaufen würde, um ein Waisenhaus zu gründen, hielten sie ihn für verrückt. Seine Geschäftspartner und Freunde waren überzeugt, er hätte den Verstand verloren.
„Viele dachten, ich sei verrückt geworden. Wie kann ein Mann mit acht Kindern all seinen Reichtum aufgeben, um fremde Kinder von der Straße aufzunehmen? Aber ich wusste, dass dies meine Berufung war.“ — Charles Mully
Mully Children’s Family: Ein radikales Experiment der Liebe
Trotz des Widerstands verkaufte Mully seine Unternehmen und gründete die Mully Children’s Family (MCF). Er begann, Straßenkinder in sein eigenes Haus aufzunehmen – zuerst drei, dann zwanzig, dann hundert. Seine biologischen Kinder mussten lernen, ihr Zuhause und die Aufmerksamkeit ihrer Eltern mit diesen Neuankömmlingen zu teilen. Es war eine radikale Umstellung von einem Leben in Luxus zu einem Leben des Dienens.
Die ersten Jahre waren unglaublich schwierig. Die Ersparnisse schwanden, und die Familie stand am Rande des finanziellen Ruins. Die aufgenommenen Kinder, viele von ihnen traumatisiert und verwahrlost, brachten enorme Herausforderungen mit sich. Einige stahlen, andere waren drogenabhängig oder gewalttätig. Doch Charles und Esther blieben standhaft in ihrem Glauben, dass jedes Kind, unabhängig von seiner Vergangenheit, Liebe und eine zweite Chance verdient.
Wasser in der Wüste: Vom Mangel zum Überfluss
Als die Zahl der Kinder in die Hunderte wuchs, stand MCF vor einer existenziellen Krise: Sie hatten nicht genug Nahrung und Wasser. Das Grundstück lag in einer trockenen Region, und die Wasserknappheit bedrohte das gesamte Projekt. In diesem kritischen Moment traf Mully eine weitere bahnbrechende Entscheidung: Er würde sein Land in eine Oase verwandeln.
Gegen den Rat von Experten begann er, Bäume zu pflanzen und nach Wasser zu graben. Nach monatelangen erfolglosen Versuchen stieß er schließlich auf eine unterirdische Quelle. Mit diesem Wasser entwickelte MCF innovative landwirtschaftliche Projekte: Gewächshäuser, Fischteiche und organischen Anbau. Was als verzweifelter Versuch begann, Nahrung für die Kinder zu produzieren, entwickelte sich zu einem der erfolgreichsten landwirtschaftlichen Sozialunternehmen Afrikas.
Heute exportiert MCF Bio-Gemüse nach Europa, betreibt mehrere Farmen und ist völlig selbstversorgend. Die Organisation hat nicht nur tausende Kinder gerettet, sondern auch ein nachhaltiges Modell geschaffen, das wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer Mission verbindet.
Ein Vermächtnis der Hoffnung
In den mehr als drei Jahrzehnten seit der Gründung hat Mully Children’s Family über 23.000 ehemalige Straßenkinder aufgenommen, erzogen und in die Gesellschaft reintegriert. Aus den Reihen dieser einst verlassenen Kinder sind Ärzte, Ingenieure, Lehrer und Unternehmer hervorgegangen. Viele kehren zurück, um in der Organisation zu arbeiten, die ihr Leben gerettet hat.
Charles Mully, inzwischen über 70 Jahre alt, leitet die Organisation immer noch gemeinsam mit seiner Frau Esther. Seine biologischen Kinder, die anfangs Schwierigkeiten hatten, den radikalen Kurswechsel ihres Vaters zu akzeptieren, sind heute in Führungspositionen der Organisation tätig. Was als persönliche Mission eines Mannes begann, ist zu einem generationenübergreifenden Familienerbe geworden.
„Jedes Kind hat das Potenzial, die Welt zu verändern. Manchmal brauchen sie nur jemanden, der an sie glaubt, bevor sie an sich selbst glauben können.“ — Charles Mully
Eine Geschichte, die inspiriert
Die Geschichte von Charles Mully inspiriert Menschen weltweit. Ein preisgekrönter Dokumentarfilm „Mully“ (2015) erzählt sein Leben und hat dazu beigetragen, seine Botschaft zu verbreiten. Sein Modell der kindzentrierten, nachhaltigen Entwicklung wird heute von Experten studiert und hat andere Organisationen in Afrika und darüber hinaus beeinflusst.
Was macht Mullys Geschichte so außergewöhnlich? Vielleicht ist es die Tatsache, dass er nicht nur gab, was er entbehren konnte – er gab alles. In einer Welt, in der Wohltätigkeit oft aus dem Überfluss geschieht, erinnert uns Mully daran, dass wahre Transformation manchmal radikale Opfer erfordert.
Oder vielleicht ist es die vollständige Kreisbewegung seines Lebens: vom verlassenen Kind zum Retter verlassener Kinder. Seine Geschichte zeigt, dass unsere tiefsten Wunden oft der Schlüssel zu unserer größten Bestimmung sein können.
In jedem Fall bleibt Charles Mully ein lebendes Beispiel dafür, was ein einzelner Mensch bewirken kann, wenn er den Mut hat, seine Komfortzone zu verlassen und alles für eine größere Vision zu riskieren. Es ist eine Geschichte, die uns herausfordert, unsere eigenen Prioritäten zu überdenken und uns fragt: Was wären wir bereit aufzugeben, um das Leben anderer zu verändern?
Charles Mully: Steckbrief
- Geboren: 1949 in einem kleinen Dorf in Kenia
- Familie: Ehefrau Esther, 8 biologische Kinder, über 23.000 adoptierte Kinder
- Schicksal: Mit 6 Jahren von seiner Familie verlassen
- Frühe Jahre: Bettelte auf den Straßen von Nairobi
- Aufstieg: Vom Gelegenheitsarbeiter zum Multimillionär und Unternehmer
- Wendepunkt: 1989 Aufgabe aller Unternehmen zur Gründung von Mully Children’s Family (MCF)
- Organisation: Mully Children’s Family (MCF) – eines der größten Kinderheime Afrikas
- Gerettete Kinder: Über 23.000 Straßenkinder und Waisen
- Auszeichnungen: Mehrere internationale Ehrungen für humanitäre Arbeit
- Dokumentarfilm: „Mully“ (2015) über sein Leben und Wirken
Buchempfehlungen zum Thema
- Father to the Fatherless: The Charles Mully Story von Paul H. Boge
- Die Mully-Story: Vom Straßenkind zum Vater der Waisen von Charles Mully und Paul Boge
- Hoffnung für Afrika: Vorbilder verändern einen Kontinent von Daniel Böcking
- Soziales Unternehmertum: Wirkungsvoll helfen von Andreas Schröer
- Mein Weg aus der Armut: Selbsthilfestrategien aus Afrika von Kennedy Odede
Quellen
- Mully Children’s Family – Offizielle Website
- „Mully“ Dokumentarfilm (2015) von Scott Haze
- „Father to the Fatherless: The Charles Mully Story“ von Paul H. Boge
- Interviews mit Charles Mully in verschiedenen Medien
- CNN Heroes Porträt über Charles Mully
- Berichte der Mully Children’s Family Foundation